Der Pessimismus in der Entwicklungs- hilfe ist unbegründet
Indigenes Wissen kann nicht über moderne westliche Organisationen vermittelt werden
Nicht nur Jobchancen, auch die elektronischen Medien sind ein Anziehungspunkt der Städte
Wissen wird nur effizient, wenn es in die Herrschafts- struktur eingebettet ist
Die Symbolsysteme vermitteln heute etwas anderes als früher
Es ist leider eine Tatsache, daß Indigenes Wissen ausstirbt
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"Die Vereinheitlichung der Welt im 'global village' ist eine Wunschvorstellung der Modernisierungseuphoriker",
ein Interview mit Andreas Obrecht
zum Thema: Innerhalb des weltweiten Diskurses über die Effekte des Internets vertreten manche Anthropologen
- wie etwa Prof. Marc Becker von der Illinois State University in dieser Ausgabe von "zum Thema:" - die
Ansicht, daß die modernen Kommunikationsmöglichkeiten insbesondere für die Lebensbedingungen von
Ethnien bzw. Ethnischen Minderheiten primär positive Auswirkungen hätten. Eben weil diese Bevölkerungsgruppen
zumeist unter schweren politischen und wirtschaftlichen Benachteiligungen leiden, würden sich ihnen durch
das Internet völlig neue Kommunikations- und Organisationspotentiale eröffnen. Um derartige Hoffnungen
als realistisch vertreten zu können, wird gleichsam ein globales Kulturmodell vorausgesetzt, das sich mehr
oder minder an westlichen Lebens-, Wirtschafts- und Denkweisen orientiert: Man trägt Jeans, ißt MacDonalds
und konsumiert Hollywood-Filme.
Sie haben Feldforschungen in sehr abgelegenen Regionen wie Papua Neuguinea, Tansania und dem südlichen
Afrika, also in genau jenen Teilen der Welt betrieben, für die sich die Weltbank mit Hilfe der elektronischen
Kommunikationsmedien einen Anschluß an die westliche Entwicklung erhofft. Würden Sie der Vorstellung
zustimmen, daß die nötige kulturelle Voraussetzung - das global herrschende westliche Kulturmodell -
bereits entsprechend weit realisiert sei?
Andreas Obrecht: Nein, dem würde ich nicht zustimmen, weil die Vereinheitlichung der Welt im "global
village", in einer global einheitlichen Kultur, eine Wunschvorstellung der Modernisierungseuphoriker ist.
Es gibt nach wie vor tausend Kulturen, die man nur anhand ihrer Unterschiedlichkeit, und nicht anhand ihrer oberflächlichen
Gemeinsamkeit erklären und verstehen kann. Ich arbeite in vorwiegend dörflichen Regionen, in sogenannten
"remote areas". Gerade in diesen Regionen wird der Verwestlichung ein ganz immanenter Widerstand entgegengesetzt,
teilweise nicht nur kulturell, sondern auch infrastrukturell.
In diesen Regionen kann man in der Regenzeit die Straßen nicht benützen, es gibt keine Elektrifizierung
und sehr wenige Kommunikationsmöglichkeiten wie Telefone oder Funkgeräte, was übrigens für
70% der Bevölkerung in der subsaharischen Region gilt. Für diese Realität, die hunderte Millionen
von Menschen betrifft und ihre Lebensbedingungen definiert, hat das Ansinnen der Weltbank keine Relevanz und keine
vorstellbaren Konsequenzen. Das Bild vom "global village" und der vereinheitlichten Welt ist, wie gesagt,
eher eine ideologisch ausgerichtete Wunschvorstellung ohne Realitätsbezug zu vielen Teilen der Welt.
zum Thema: Eine solche Ideologie basiert doch auf der westlichen Idee der Aufklärung. Obwohl das Kulturmodell
der Moderne als gescheitert betrachtet werden kann, läßt es sich immer noch gut vermarkten. Die Vision
der "Erleuchtung" durch westliches Wissen, verbunden mit der Technisierung, wird nun als das einzig wahre
Lösungsmodell für Entwicklung propagiert.
Andreas Obrecht: Natürlich werden, wenn technisiert werden soll, bestimmte Vorstellungen sowohl von Modernität
und linearer Entwicklung als auch von einem Individuum mit Eigenschaften wie Mobilität, Empathie, Innovationsfreude
und Außenorientierung, mit Emanzipations- und Partizipationsbedürfnissen vorausgesetzt: ein Individuum,
das an dieser als Entwicklung ausgewiesenen Innovation teilhaben will. Die technische Entwicklung kann es ohne
ökonomische Entwicklung, also ohne Wachstumspotentiale, nicht geben. Und in diesem Sinne setzt natürlich
ein hochtechnisches Medium wie das Internet diese westliche Vorstellung von Entgrenzung von Zeit und Raum fort,
was als Erweiterung oder eben als Erleuchtung empfunden werden kann.
Aber in den Weltgegenden, in denen es eine stark begrenzte Ökonomie, begrenzte Zeitsysteme, begrenzte räumliche
oder auch politische Systeme gibt, kann eine solche Entgrenzung gar nicht stattfinden: Das politische System hängt
noch sehr stark an der Lokalgruppe oder an ethnischen Relationen. Zwangsläufig ist das Medium Internet am
Land nicht vorzufinden, sondern eher an den Orten, wo es schon westliche Strukturen gibt, vielleicht auch an ein
paar besser ausgerüsteten Universitätsinstituten, Büros oder Konzernablegern in afrikanischen Großstädten,
wo Andockstellen der Modernisierung, der Akkulturation bereits existieren.
zum Thema: Ich möchte die Hypothese in den Raum stellen, nach der ein Zusammenhang zwischen der "Entwicklung"
des Südens und dem dortigen Schaffen von Bedürfnissen nach Angeboten der westlichen Welt und ihren Produkten
besteht. Die Weltbank meint nun, daß zwar 80 % der Menschheit noch nie ein Telefonat geführt hätten,
daß also ein gravierendes soziales und ökonomisches Nord-Süd-Gefälle bestünde, daß
aber eben diese Kluft geschlossen werden könnte - unter der Bedingung des Anschlusses an das moderne, weit
billigere Kommunikationsnetz. Diese Vorstellung beruht auf der zentralen, eurozentrischen Ideologie, daß
allein der westliche Weg - die Forderung nach Aufklärung und das westliche Dasein als Konsument - den wahren
Weg zum irdischen Paradies darstellen würde. Ist für diese Menschen die westliche Intervention wirklich
die einzige Chance auf eine nachhaltige Entwicklung?
Andreas Obrecht: Es kommt darauf an, was man als Entwicklung betrachtet. Der Pessimismus in der Entwicklungspolitik
ist unbegründet. Es wird ja seit einigen Jahren der große Abgesang auf die Entwicklungstheorien betrieben.
Ulrich Menzel spricht vom großen Scheitern der Entwicklungsbemühungen. Ich sehe darin die Folge einer
falschen Macher-Mentalität und eines falschen Verständnisses von social engineering, von Gestaltbarkeit
von Welt. Denn egal, ob man Imperialismus-Theorien vertreten hat oder neopositivistische ökonomische Theorien,
es konnte letztlich nicht darum gehen, innerhalb von ein paar Dekaden die sogenannten armen Gebiete zu modernisieren
und tragfähige, auch kapitalistische Binnenstrukturen zu schaffen und in diesem Sinne die Vereinheitlichung
der Welt zustande zu bringen.
Vielmehr meine ich, es sollten prinzipiell einmal Möglichkeiten eines fairen Handels, eines fairen Austausches
zwischen Nord und Süd geschaffen werden, die wegen den nachteiligen "terms of trade" und der Verschuldung
noch nicht bestehen. Es ist für die betroffenen Leute, insbesondere in den ruralen Gebieten, wichtig, daß
Interventionen getätigt werden und eine Förderung der beschränkten Ökonomie der kleinen Räume
stattfindet. Es geht um die Deckung von Grundbedürfnissen, um Nahrungsmittel, Gesundheit, Wasser. In einem
beschränkten Ausmaß geht es um Bildung und in einem noch beschränkteren Ausmaß um die Schaffung
von Möglichkeiten des Gelderwerbs in den ruralen Gebieten, um in weiterer Folge Investitionen in Werkzeuge,
in Produktionsmittel zu ermöglichen. Dieser Ansatz unterscheidet sich von jenem, der ökonomische Investition
in industrielle Projekte oder in Eckdaten und Kennwerte der Volkswirtschaft anstrebt, wodurch eine ökonomische
Verselbständigung dieser Länder im westlichen Sinn erwartet wird.
In Wirklichkeit ist trotz diesem apostrophierten "global village" die Einbindung der südlichen Ökonomien
in die Weltwirtschaft wesentlich schwächer geworden, wie man am Beispiel des subsaharischen Afrika sehen kann.
Noch Mitte der Achtzigerjahre belief sich die Einbindung dieser Region um die 2,7% in das Welthandelsvolumen, mittlerweile
liegt sie bei 0,7%. Daraus folgt, daß eine Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen mit einer extremen Polarisierung
und Verschärfung der ökonomischen und damit auch der kulturellen Widersprüche gegeben ist, die jedoch
unter dem Deckmantel des "global village" im Diskurs des Westens abgeschwächt wird. Die Polbildung
wird nicht gesehen, das Internet tritt sogar als Symbol einer Vereinheitlichung auf. Das Medium an und für
sich ist nicht negativ. Das Problem besteht vielmehr darin, daß es nur für eine Minorität zugänglich
ist.
zum Thema: Sie haben die Grundbedürfnisse und die notwendige Verbesserung der Befriedigung solcher Grundbedürfnisse
angesprochen. Ich möchte an dieser Stelle das Weltbank-Verständnis von "Wissen" einbringen,
weil hier meiner Ansicht nach ein Schlüsselproblem zu finden ist. Angenommen, es sollten kleine Verbesserungen
der Grundversorgung erreicht werden. Der Westen reagiert nun, indem er die exportorientierte Modernisierung forciert,
um die Chancen der benachteiligten Länder auf Teilnahme am internationalen Markt zu verbessern . Der Rest
- nämlich die Lösung der Grundversorgung - werde sich dann durch die Exportsteigerung schon von selbst
ergeben. Damit setzt der Westen allerdings Dimensionen und Kategorien voraus, die mit dem konkreten politischen,
sozialen und kulturellen Kontext - also mit den eigentlichen Problemen - überhaupt nichts zu tun haben.
Andreas Obrecht: Aus den postkolonialen Strukturen ist in den Dritte-Welt-Ländern eine Politklasse und eine
Bourgeoisie hervorgegangen, die sich mit den westlichen Interessen verlinkt und auch von Investitionen in den industriellen
Sektor profitiert. Aber das betrifft nur eine Minorität von Privilegierten, welche die Rationalität der
Ökonomie in den jeweiligen Ländern für die eigene Tasche geltend macht. Woran es in diesen Regionen
für die Sinnhaftigkeit der Implantierung fordistischer Modelle mangelt, ist eine einigermaßen tragfähige
urbane Mittelschicht, wie es im Verlauf der europäischen Industrialisierung der Fall war.
zum Thema: Die Sozialstruktur läßt also keine Entwicklung, wie der Westen sie sich vorstellt, zu.
Selbstverständlich ist auch die Organisation und Verwaltung von Wissen nicht notwendigerweise kompatibel mit
der des Westens. Die Weltbank hat das Wissen in den Mittelpunkt ihres aktuellen Entwicklungsreports gestellt. Sie
geht davon aus, daß wir in die Ära der Wissensgesellschaft eintreten und daß über moderne
Kommunikationsmittel dieses Wissen für alle gleichermaßen zugänglich gemacht werden könne.
Darin soll für jene "armen Länder" die große Chance liegen, weil sie nicht mehr von der
Wissenskonzentration in den Ballungsräumen ausgeschlossen sein würden. Das setzt allerdings entweder
westliche Wissensinhalte als universell einsetzbar voraus, oder daß die ökonomischen und kulturellen
Strukturen, mit denen das Wissen verbunden ist, universell seien.
Andreas Obrecht: Westliches Wissen könnte so etwas wie ein universelles Wissen werden, weil westliche Rationalität,
Organisation und Produktion heute den Globus doch tendenziell vereinnahmen. Das will ich gar nicht bewerten. Daraus
folgt ja gerade die dominante Stellung dieses Kultur- und Wissensmodells und damit auch die dominante Konstruktion
von Wirklichkeit. Pointiert formuliert könnte man dann schon sagen, daß das Internet als Kommunikationsmedium
und als Träger dieser Wissensrationalität auch ein Vorreiter der Dienstbarmachung der Menschen auf diesem
Planeten unter das Diktat der westlichen Rationalität ist.
Im Gegensatz dazu kann indigenes Wissen nicht über moderne westliche Organisationen vermittelt werden. Vielmehr
reißt die Kommunikation ab, wird einseitig vermittelt, genauso wie das indigene Wissen ausstirbt, also innerhalb
der neuen ökonomischen und organisatorischen Strukturen an Handlungsrelevanz verliert. Wissen kann man immer
nur handlungspragmatisch umsetzen, wenn der entsprechende Raum gegeben ist, in dem dieses Wissen kommunizierbar
ist. Und außerdem kann ich dieses Wissen auch nur dann vermitteln, wenn es irgendeine Chance gibt, daß
sich dieses Wissen real in Handlungszusammenhängen manifestiert. Und indigenes Wissen läßt sich
sehr schwer innerhalb moderner Strukturen aufrechterhalten oder transportieren, und wenn, dann meistens nur in
Form einer Mimikry.
zum Thema: Weil die sekundären und tertiären Kommunikationselemente - die Ökologie der Kultur
als gesamter Lebens- und Handlungskontext - wegfallen?
Andreas Obrecht: Richtig! Nehmen wir als Beispiel die sozialen Ranghierarchien. Es werden Wissens- und Wirklichkeitsinhalte
artikuliert, die extrem an ethnische Strukturen wie etwa den zugewiesenen gesellschaftlichen Status gebunden sind,
die aber in einer pseudoegalisierten Gesellschaft Teil des Wissensinhaltes sind. In einer Gesellschaft, in der
die Individuen gleich sind, fluktuieren ja auch sogenannte Wissensinhalte scheinbar frei. Das Internet steht ja
als Symbol für diese Pseudoegalisierung von Kommunikationsinhalten und damit ach-so-freien Individuen.
zum Thema: Was aber wiederum voraussetzt, daß man, wenn man daran teilhaben will, sich der westlichen
Kommunikationskultur unterwerfen und sie vollkommen neu erlernen muß.
Andreas Obrecht: Ja, die Entscheidungsfreiheit ist nicht gegeben. Genauso wie wir eine spezifische Kommunikationskultur
erlernen müssen, wenn wir in einem akademischen Betrieb arbeiten, muß ein Filialleiter eines afrikanischen
Büros sich damit auseinandersetzen. Es ist besonders interessant an der Euphorie über das Hervorbringen
von westlichen Kulturprodukten, sei es ein Handy, ein PC oder das Internet, daß eine immanente Logik des
Unterwerfen-Müssens aufgrund der Kompetitivität unserer eigenen Vorstellung von Sein entsteht. Niemand
zwingt mich, mich einzuordnen und zu unterwerfen, aber wir denken alle, wir müssen an der Euphorie des Kulturprodukts
teilhaben, damit wir als Mensch und damit sozusagen als produzierendes Individuum kompetitiv bleiben. Egalität
schafft Konkurrenz.
zum Thema: Welche Rolle spielt dieses Phänomen des Dabei-sein-Wollens, der Reiz der Modernität, in
den Regionen, die Sie als Kulturanthropologe untersucht haben?
Andreas Obrecht: Der Reiz der Modernität schließt an die Waren- und Güterfaszination an. Die Faszination,
die westliche Waren ausüben, ist gewaltig. Viele Leute migrieren auch aufgrund dieser Möglichkeiten in
die Stadt. Natürlich ist auch die Vorstellung von Mobilität, von neuen sozialen Kontakten, von Elektrizität
attraktiv. Nicht nur Jobchancen, sondern auch die materielle, besonders die elektronische Welt ist ein Anziehungspunkt.
In Simbabwe beispielsweise haben Radios einen enormen Prestigewert. Das Radio ist ein Konsumgut, das für die
Menschen in ruralen Gebieten verwendbar ist. Dafür müssen sie nicht in die Stadt gehen.
zum Thema: Ihre letzte Bemerkung könnte man als ein Argument für die modernen Kommunikationsmittel
verstehen. Von manchen Modernisierungsbefürwortern werden etwa Mobiltelefone als Hilfsmittel im Hinblick auf
den Anschluß an die regionalen Märkte gesehen. Wird aber nicht gleichzeitig über die Integration
durch moderne Kommunikationsmittel die Konkurrenzproblematik des westlichen Marktsystems mitforciert?
Andreas Obrecht: Die Frage stellt sich nicht. Grundsätzlich ist die Handlungsrelevanz des Mediums, also das,
was sich bei den Menschen aufgrund der Information durch das Medium tatsächlich tut, einfach zu gering. Kein
Handy schafft es, als Maschine extern Grundbedürfnisse zu decken und Helferstrukturen aufzubauen, die vielleicht
besser oder von den Menschen mehr gewollt sind als die vorhandenen. Es hat sehr ambitionierte Versuche gegeben,
über das Radio Gesundheitsprogramme oder auch Ofenbauprogramme durchzuführen - etwa die Projekte der
Friedrich Ebert Stiftung in Deutschland, die aber letztlich nicht viel gebracht haben.
zum Thema: Lassen Sie mich meine Frage anders stellen: Könnte man behaupten, daß durch die modernen
Kommunikationsmittel die Akkulturation beschleunigt wird, sodaß traditionelle Sozialstrukturen rascher und
folgenschwerer unterwandert und damit deren vorhandene Lösungspotentiale- nämlich traditionelle quasi-kommunitaristische
Strukturen - erodiert werden? Ist die Modernisierung für jene Sozietäten nicht von vornherein ein Programm
zur Reduktion ihrer Überlebensmöglichkeit ?
Andreas Obrecht: Was die Überlebensmöglichkeit in einem sozusagen traditionellen Kontext betrifft, stimme
ich Ihnen zu. Ich glaube, daß moderne Technologien eine Vorreiterrolle darin haben, den Menschen ihre eigene
Kultur als Sackgasse in die Verelendung vor Augen zu führen, während uns die westlichen Kulturprodukte
als neue Auswege präsentiert werden. Analytisch betrachtet führen dadurch ausgelöste Landflucht,
Urbanisierung und Verelendung in den städtischen Gebieten der Dritten Welt dann tatsächlich zu einer
zunehmenden Verelendung. Aber in den Menschen ist die Hoffnung geweckt worden, daß die von außen vermittelte
Technik und Ökonomie die Probleme lösen können.
Insofern wird das Medium Internet überschätzt. Es ist weder positiv noch negativ, sondern einfach nicht
effizient. Selbst für uns Menschen im Westen ist nicht das Schaffen von mehr Kommunikation im Sinn von größerem
Informationsfluß erstrebenswert, sondern von Möglichkeiten der Reduktion und Selektion von Kommunikation.
Das eine richtige Buch kann mir mehr helfen als zehn falsche. Die Kommunikationshybris, die die westliche Welt
beherrscht, läßt uns glauben, daß ein innovativer Input wie der Anschluß ans Internet auch
für die Länder der Dritten Welt von Vorteil sein muß. Vielleicht kann das Internet, wenn sich die
ökonomischen Strukturen ändern sollten, in vielen Jahrzehnten einmal ein praktisches Medium für
die Bevölkerung werden, aber nicht zum jetzigen Zeitpunkt.
zum Thema: Generell bedingt der Umgang mit Medien die entsprechenden Nutzungskompetenzen , die "Media literacy",
was wiederum - gerade beim Internet - hochspezifische und komplexe kulturelle Fähigkeiten voraussetzt, will
man nicht einfach nur "staunend" durch eine Bibliothek spazieren oder durch das Web surfen. Doch genau
an diesen Kompetenzen mangelt es insbesondere den Menschen jener Gebiete, die gerade durch das Projekt "Knowledge
base" der Weltbank profitieren sollen, die also den Sprung aus der Agrarentwicklung direkt auf die Stufe der
Wissensgesellschaft unternehmen sollen.
Andreas Obrecht: Nutzungskompetenzen sind wichtig. Wissen oder Wissensinhalte sind natürlich immer an Durchsetzungsmöglichkeiten
und damit an Macht- und Herrschaftsstrukturen innerhalb einer Gesellschaft gebunden. Wissen wird auch nur effizient,
wenn es in diese Herrschaftsstruktur eingebettet ist. Die moderne Kommunikationstechnik erweckt den Eindruck, als
ob sie von einer solchen Machtstruktur abgekoppelt sei: Scheinbar frei fluktuierende Wissenspartikel stehen in
einem entgrenzten, weil zeitlich und räumlich nicht mehr gebundenen Raum. So wie der Mensch jetzt beschaffen
ist, kann mit dieser Form des Wissens relativ wenig erreicht werden.
zum Thema: Dieser Scheinegalitarismus spielt auch eine zentrale Rolle für eines der wesentlichen Potentiale,
das man dem Internet unterstellt, nämlich das Demokratiepotential. Gruppen, die aufgrund ihrer sozialen Gegebenheiten
bislang von den öffentlichen Medien abgekoppelt sind, könnten sich über alternative Netzwerke wie
"NativeWeb" (siehe Interviews mit Shane Caraveo und Marc Becker) miteinander vernetzen und ihre Anliegen
effizienter artikulieren. Müssen dazu nicht gewisse Fähigkeiten einer politischen Kultur bereits vorhanden
sein, um die Multiplikator-Potentiale der Netzkommunikation überhaupt wahrnehmen zu können?
Andreas Obrecht: Natürlich, vor allem werden tragfähige demokratische Institutionen gebraucht, die Gewaltentrennung
oder unabhängige Rechtsprechung garantieren können. Hinzu kommt, daß der Demokratiebegriff natürlich
aus unserem westlichen Politikverständnis und aus unserer Sozialgeschichte geschöpft ist. Nun möchte
ich im Kulturrelativismus nicht zu weit gehen, indem ich autokratische Systeme rechtfertige, doch funktioniert
Demokratie eben sehr oft dort nicht, wo es diese tragfähigen Institutionen nicht gibt.
In Tansania als ehemals blockfreiem sozialistischen Musterland mit einer Einheitspartei kommen ethnische Differenzen
wieder viel stärker zutage, da in der neuen, neoliberalen Welt unter der alleinigen politischen Hegemonie
des Westens keine Spielräume mehr für einen möglichen Zwischenkurs frei bleiben. Also wird jetzt
"westliche Demokratie" gespielt, wo die dafür nötigen Strukturen gar nicht gegeben sind. Die
Wirklichkeit sieht dabei so aus: Aus Geldmangel und wegen der geringen Organisationsdichte können nicht einmal
Parteien gegründet werden. Die Revolutionspartei "Cha ma cha Mapinduzi" hatte als der verlängerte
Arm einer autokratischen Regierung zumindest den Vorteil, daß Kommunikationsinhalte durch eine landesweite,
gute Organisation nicht nur von oben nach unten, sondern vielmehr von unten nach oben gelangen konnten.
zum Thema: Und dazu waren keine technischen Hilfsmittel notwendig.
Andreas Obrecht: Ja, genau.
zum Thema: Das Tansania Modell mag gescheitert sein, nicht zuletzt durch die wachsende Dominanz des westlichen
Politik- und Wirtschaftsmodells. Dagegen scheinen "unpolitische" Traditionen solcher Ethnien einen neuen
Stellenwert im Kontext der kulturellen Globalisierung zu erlangen. Ich denke dabei an Phänomene wie etwa Voodoo
oder Schamanismus, die mittlerweile begeisterte Aufnahme im Westen finden.
Andreas Obrecht: Aus dem Bereich der Symbole, ob das nun World Music ist oder Neoschamanismus, wird ein Eintopf
aus verschiedenen symbolischen Versatzstücken zusammengerührt, der nichts mit der Authentizität
zu tun hat, welche die westlichen Menschen zu finden glauben. Die Symbolsysteme vermitteln heute etwas anderes,
als sie früher vermittelt haben.
zum Thema: Könnte man nicht einwenden, daß durch die Isolierung ethnischer Symbole aus ihrem spezifischen
Kontext und ihre Einbindung in den westlich kulturellen Kontext eine neue Form der Lebensvielfalt entsteht - etwa
ein Wiener Stadtindianer.
Andreas Obrecht: Ein Wiener Stadtindianer ist kein Indianer mehr. Es mangelt ihm an Authentizität. Die symbolische
Form ist nicht vom Inhalt und vom sozialen Kontext trennbar. Die Symbolsysteme sind amalgamierbar und synthetisierbar,
und weil sie nicht mehr in die Sozialstruktur eingebettet sind, vermitteln sie etwas anderes, als sie früher
vermittelt haben. Voodoo hat neben Norm und Sanktion ja auch immer in gewisser Weise Wissen und Erkenntnis vermittelt.
Sich mit diesem Wissen und der Erkenntnis bei einem Indianerseminar in Neulengbach unter dem Titel Authentizität
schmücken zu wollen, dient der Forschung nicht .
zum Thema: Müßte man demnach konsequenterweise konstatieren, daß das Authentische zum Aussterben
verurteilt ist und durch hybride Kulturen ersetzt wird?
Andreas Obrecht: Es ist leider eine Tatsache, daß indigenes Wissen ausstirbt. Wissen kann nur gelebt werden.
In dem Moment, wo es nicht mehr gelebt wird, kann es nicht durch Bücher erhalten werden. Bestimmte Rationalitätsstrukturen,
mittels derer Wirklichkeit wahrgenommen, konnotiert und decodiert wird, werden in 100 oder 150 Jahren verschwunden
sein.
zum Thema: Demnach bewegen wir uns auf der Einbahnstraße in Richtung einer Eintopfkultur, deren Kommen
durch nichts aufgehalten werden kann. Sollte man gerade in Anbetracht dieses "Schicksals" nicht doch
das Unaufhaltsame so rasch als möglich mit allen Menschen teilen - etwa in Form des Internets?
Andreas Obrecht: Warum nicht? Wo die organisatorischen und ökonomischen Bedingungen erfüllt sind, gibt
es ja eine Nachfrage. Man darf nur in der euphorischen Diskussion nicht übersehen, daß die Realität
für hunderte Millionen Menschen anders aussieht. Und Entwicklungen, die aus diesen Realitäten herausführen,
gehen viel zu langsam vor sich. Ich bin aber kein Apokalyptiker, sondern glaube, daß die Spezies Mensch die
notwendige Rationalität aufbringen kann. Es müssen allerdings Quantensprünge im Lernen in bezug
auf Handlungspragmatik stattfinden.
zum Thema: Und dieses Lernen kann sicher nicht aufgrund moderner Kommunikationsmedien hervorgebracht werden!?
Andreas Obrecht: Sicherlich nicht in der Form, die ich kenne, dem Internet.
zum Thema: Ich danke für das Gespräch.
Der Ethnologe, Kulturanthropologe und Soziologe Prof. Dr. Andreas Obrecht ist Professor für Soziologie an der Universität Linz
und derzeit Gastprofessor an der Grazer Karl-Franzens-Universität zum Thema "Vom Ethnos zur Weltgesellschaft".
Seine Erfahrungen im Zuge seiner umfangreichen Forschungstätigkeit zu Akkulturationsphänomenen bei abgelegenen
Kulturen hat der Autor auch in vielfältiger literarischer Form veröffentlicht.
"zum Thema:" Nr. 24, 30.12.1998
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